Diversität in der Labordiagnostik

Eine vererbbare Androgenresistenz führt zu einem weiblichen Phänotyp trotz eines männlichen Genotyps. ©medicalvalues

D-Karlsruhe | Die Idee von einer personalisierten Medizin, also eine auf den individuellen Patienten abgestimmte Diagnostik und Therapie soll die Gesundheitsversorgung effizienter und zielgerichteter machen. Gleichzeitig werden viele Laborreferenzwerte über Geschlechter, Ethnien und Altersgruppen hinweg einheitlich gehandhabt. Ist hier ein Umdenken nötig?

Personalisierte Medizin

Die klassische Medizin ist darauf ausgerichtet, diagnoseorientiert Vorschläge für eine geeignete Therapie zu machen. Durch eine Modernisierung der Diagnostikverfahren ist bereits in den letzten Jahren eine neue Form der Medizin, basierend auf Charakteristika der individuellen Person, entstanden. Dazu können das Alter, der Allgemeinzustand oder die Familienanamnese zählen [1]. Besonders genetische, zelluläre und molekulare Merkmale werden, unterstützt durch neue Diagnostikverfahren eine noch größere Rolle spielen. Genutzt wird dies beispielsweise in der Brustkrebstherapie: Ein Her2/neu Oberflächenrezeptor an den Krebszellen galt lange Zeit als negativer prognostischer Faktor. Durch die Zulassung des effektiven monoklonalen Antikörpers Trastuzumab, der diese Andockmöglichkeit nutzt, können Brustkarzinome mit diesem Merkmal heute sogar besser behandelt werden [2].

In Deutschland sind derzeit 98 Medikamente zur personalisierten Therapie zugelassen. Neben dem Vorhandensein von Oberflächenrezeptoren beruht die spezifische Therapie auf dem Vorliegen von definierten Mutationen, die mithilfe neuartiger Gendiagnostik im Vorfeld überprüft werden muss [3].

Gendermedizin

Eine zielgerichtete Therapie und Diagnostik beginnt allerdings bereits im Hinblick auf das Geschlecht der Person, welches nicht als zwei gegenüberliegende Pole, sondern vielmehr als Kontinuum verstanden werden soll. Denn, so ist sich die Genderforschung einig, beruht das Geschlecht nicht allein auf der Kombination der Geschlechtschromosomen, sondern auch auf dem gonadalem, genitalem, mentalem und sozialem Geschlecht[4]. Eine differenzierte Betrachtungsweise ist wichtig, da diese nicht zwangsläufig kongruent sind. Eine vererbbare Androgenresistenz kann beispielsweise trotz eines männlichen Genotyps (XY) bei den Betroffenen zu einem weiblichen äußeren Erscheinungsbild führen. Bei vollständiger Resistenz zeigt sich eine blind endende Vagina bei in der Bauchhöhle liegenden Hoden. Ein angemessener medizinischer Umgang muss hier zwangsläufig personalisiert stattfinden und sich nach der Geschlechtsidentität des Kindes richten [4].

 

Ethnien

Lange galt der Grundsatz, dass die kulturelle Identität auf die richtige Therapie hinweist. Das wäre natürlich sehr praktisch, wenn äußere Merkmale, wie Augen-, Hautfarbe oder Gesichtsform etc., eine zielgerichtete Therapie ermöglicht. So einfach ist es aber aus verschiedenen Gründen nicht: Zum Einen muss sich die Frage gestellt werden, ob und inwiefern die äußerliche Erscheinung überhaupt auf die Ethnizität deutet. Wie kann beispielsweise ein:e Studienteilnehmer:in sicher sein, welche Herkunft vorliegt? Oft sind nämlich nur zwei bis drei Generationen bekannt. Außerdem lässt sich die Abstammung oft gar nicht in Schubladen einsortieren. Eine Angabe der ethnischen Subgruppen innerhalb von wissenschaftlichen Studien bis auf die Nachkommastelle erscheint vor diesem Hintergrund wenig sinnvoll. Ähnlich vorsichtig müssen die daraus abgeleiteten Folgerungen betrachtet werden. Entsprechend wurde bis heute nicht ein einziges Basenpaar gefunden, dass die Unterschiede der kulturellen Identität erklärt [7].

Künstliche Intelligenz (KI)

Eine hohe Relevanz erhält dieses Thema mit dem Hintergrund der Verbreitung von KI-Systemen. Es ist bekannt, dass die Daten, mit denen KI-Systeme trainiert werden, nicht die gesamte Bevölkerung abdecken. Amerikanische Trainingsdaten bilden beispielsweise zum großen Teil nur Personen aus den drei Bundesstaaten Kalifornien, Massachusetts und New York ab [8]. Nur ausgewogene Trainingsdaten können allerdings eine zufriedenstellende Funktionalität für jeden bieten. Das führt beispielsweise dazu, dass die KI bei CT-Aufnahmen des weiblichen Thorax weniger gute Ergebnisse erzielen. Gleiches gilt für die Diagnostik von Hautkrebs auf stark pigmentierte Haut, da sich diese in Trainingsdaten seltener finden lässt [9]. Neben den Verzerrungen, die durch einseitige Trainingsdaten entstehen, gib es weitere Mechanismen, die vorhandene soziale Ungleichheiten verstärken können. Amazon hat zum Bespiel eine KI, die zur Anstellung von neuen Mitarbeitern entwickelt wurde, gestoppt, nachdem bekannt wurde, dass sie Männer bevorzugt, da sie in ihren Bewerbungen öfter Wörter wie „executed“ oder „captured“ verwenden [10]. Außerdem nehmen Natural Language Programme Stereotypen auf, die in den Texten, die sie zu Trainingszwecken erhalten, vorhanden sind, und reproduzieren diese [11].

Personalisierungen in der Labormedizin

Was bedeutet dies für die Labormedizin? Bei klassischen Laborwerten entscheidet der Referenzbereich, ob ein pathologischer Wert vorliegt. Unter den angesprochenen Gesichtspunkten erscheint es sinnvoll diesen nicht für alle Patienten gleich auszulegen. Dies wird beispielsweise bei dem Hb-Wert so gehandhabt, der für Kinder und Neugeborene, aber auch für Frauen und Männern einen anderen Zielbereich aufweist. Die angesprochenen Punkte der Gendermedizin zeigen jedoch, dass sich nicht jede Person so einfach in diese vorhandene Polarität einordnen lässt.

Referenzbereiche werden so festgelegt, dass 95% der gesunden Personen, einen Wert in dieser Spanne aufweisen. [12]. Damit sind Referenzbereiche abhängig von der Selektion der Menschen, die an den Studien teilnehmen. Kinder und alte Menschen werden beispielsweise selten untersucht. [13].

Ein Beispiel aus der Kinderheilkunde:

Anwendungen zur ärztlichen Entscheidungsunterstützung müssen zusammenfassend besonders bei der Diagnostik von Krankheiten die demographischen Daten der jeweiligen Person beachten. Ein Beispiel dafür stellt die Sepsis bei Neugeborenen dar, die besonders auch frühgeborene Kinder betrifft. Die Inzidenz ist in den letzten Jahren stetig gestiegen und bei einer Mortalität von bis zu 18% in Industriestaaten ist eine adäquate und schnelle Diagnosefindung unerlässlich. Die Sepsis bei Neugeborenen stellt sich jedoch klinisch oft anders als bei Erwachsenen dar und ist damit mitunter schwieriger zu diagnostizieren. Die medicalvalues Plattform nutzt daher individuelle Kriterien für die Sepsis bei Neugeborenen: In der ärztlichen Untersuchung können beispielsweise Neugeborene eine verstärkte Nutzung der akzessorischen Atemmuskulatur oder thorakale Einziehungen zeigen. Außerdem „Knorksen“ sie unter Umständen dabei. Darüber hinaus sind neugeborene Kinder mit einer Sepsis häufig lethargisch und es fällt ihnen schwer, die Körpertemperatur aufrecht zu erhalten. Das Ganze kann verbunden mit einer Trinkschwäche sein. In der laborchemischen Analyse nehmen darüber hinaus Interleukin-6 und Interleukin-8 als Infektparameter einen höheren Stellenwert ein. [14]. Eine KI, die erlernte Kriterien von Trainingsdaten von Erwachsenen auch für die Diagnose einer Sepsis bei Neugeborenen nutzt, würde daher bei neugeborenen Kindern eine schlechtere Performance aufweisen.

Eine Sepsis bei Neugeborenen ist schwierig zu diagnostizieren.
Sie können lethargisch wirken und blass sein.
©medicalvalues

Zusammenfassung

Neue Diagnostikverfahren haben das Zeitalter der personalisierten Medizin eingeläutet. KI-Anwendungen müssen daher den Spagat zwischen der Berücksichtigung von individuellen Eigenschaften und der gleichzeitigen Vermeidung von Bias, die Personengruppen benachteiligen könnten, schaffen. Wie das Beispiel der Sepsis bei Neugeborenen zeigt, müssen in der Diagnostik beispielsweise Laborparameter unterschiedlich gewichtet oder Untersuchungsergebnisse richtig eingeordnet werden.

(Quelle: Blogbeitrag medicalvaluesGmbH, 18.05.2022)

Literaturverzeichnis:

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